Seit guten 30 Jahren sind wir dabei, das Gesundheitswesen zu „digitalisieren“. Es ist fast sprichwörtlich, dass die Anstrengungen bisher von überschaubarem Erfolg gesegnet waren. Selbst – oder gerade – in der HIT Branche wird über ein Glas Wein gern mit der gefühlten Hoffnungslosigkeit kockettiert. Warum dieses Gefühl des Misserfolgs?
Oberflächlich könnte man das Gesundheitswesen mit anderen Branchen vergleichen. Vor 30 Jahren wurde GPS eingeführt – und heute ist Logistik ohne GPS nicht mehr denkbar. Eigentlich noch nicht einmal die Suche nach einem Restaurant, dem Klavierstimmer oder der Bankfiliale. Wenn es die überhaupt noch gibt. Heute werden selbst die Callcenter wieder abgewickelt und einhörnige Fintecs bejubelt. Ich weiß noch, als die Lufthansa uns extra Meilen anbot, wenn man sich sein Ticket ausdruckte und an einem Check-In Automaten eincheckte. Das ist viel weniger als dreißig Jahre her. In vielen Branchen wurde später mit Digitalisierung begonnen als im Gesundheitswesen. Aber in praktisch allen ist sie inzwischen weiter vorangeschritten.
Etwas muss also anders sein im Gesundheitswesen. Aber wenn wir ehrlich sind, all die stereotypen Erklärungsversuche laufen ins Leere. Mit vertraulichen Daten wird in der Bank auch gearbeitet. Um Leben und Tod geht es am Flughafen auch, gerade, wenn die IT nicht funktionieren würde. Komplex und für Laien kaum zu durchschauen ist Vermögensmanagement auch.
Auch das häufig – hinter vorgehaltener Hand – gehörte Argument, dass Mitarbeiter im Gesundheitswesen IT und Technik ablehnend gegenüberstehen, besonders die alles entscheidenden Ärzte, klingt hohl. Gemeinhin sind gerade die Wohnzimmer von Ärzten immer mit dem Neuesten an Elektronik bestückt. Und die sollen die Bremser sein?
Näher kommen wir dem Kern der Ursache schon, wenn wir die Anreizstrukturen betrachten. Abrechnung heißt im Gesundheitswesen Dokumentation. Nur wer dokumentiert kann abrechnen. Und je komplizierter die Abrechnung, desto komplizierter die Dokumentation. Gerade in Gesundheitssystemen, die auf Fallpauschalen basieren – was inzwischen die Mehrheit weltweit ist – wird die Abrechnung und damit auch die Dokumentation digitalisiert. Und dann wird der IT unter Umkehrung der tatsächlichen Kausalität vorgeworfen, dass sie zu mehr Dokumentation führt.
Umgekehrt wird aber auch ein Schuh draus: wo Mehrerlösabgaben die Erträge von Produktivitätssteigerungen durch IT (was in der Regel heißt: mehr Output bei gegebenen Kosten) wieder abschöpfen gibt es keinen Anreiz in Produktivität – also IT – zu investieren. Der ROI funktioniert dann einfach nicht. Die erstaunliche „Pflegepersonaluntergrenzen Verordnung“ in Deutschland ist da nur ein weiteres Beispiel für die systemische Beseitigung von Investitionsanreizen. Wer bereits erfolgte Effizienzverbesserungen durch die Verlagerung nicht-pflegerischer Tätigkeiten an nicht-pflegerisches Personal wieder rückgängig machen muss, der wird erst recht nicht in weitere Produktivitätssteigerungen des pflegenden Personals investieren – es ist ja faktisch gesetzlich untersagt, effizient zu sein.
Aber auch all diese Erklärungen gehen aus meiner Sicht immer noch am Kern der Herausforderung vorbei. Durch die Fokussierung auf Medizin läuft die Healthcare IT zu häufig in eine nur schwer zu erkennende Falle. Medizin dreht sich um den Menschen, und zwar den einzelnen Menschen, den Patienten. Gute Dokumentation muss daher Patienten-zentrisch aufgebaut sein (natürlich kann man auch beliebig häufig redundant und unzusammenhängend Daten auf einzelnen Inseln sammeln, die bei der Eingabe zu endloser Doppelarbeit und Frustration führen, beim Patienten zu Verwunderung und schließlich Resignation und bei der Abrechnung zu Dokumentations- (=Erlös-) Lücken. Patientenzentrik bedeutet aber auch, dass Daten um einen Patienten strukturiert sind und damit nicht einfach zur Ablaufsteuerung genutzt werden können. Um zu erkennen, welcher Arbeitsschritt als nächstes wichtig und dringend wäre, genügt es nicht, Patientenlisten durchzugehen. Es müssten Prozessschritte orchestriert werden. Die sind aber nicht Patienten-zentrisch. Und so findet die eigentliche Arbeit weiter analog statt.
In allen Branchen, in denen die Digitalisierung die Produktivität gesteigert hat, wurde nicht Papier abgeschafft (außer als Nebeneffekt) oder mehr Informationen gesammelt. Es wurden Prozesse verbessert! Bei der Digitalisierung der Flugtickets ging es nicht um die Abschaffung von Papiertickets. Es ging noch nicht einmal um die Produktivitätssteigerung des Verwaltungsprozesses für die Ausstellung von Tickets. Es ging um die bessere Auslastung der Flotte und des fliegenden Personals. Das ist die Kernwertschöpfung von Fluglinien. Genauso verhielt es sich mit der Just-In-Time Fertigung und dem EDIFACT Standard, der sich schon in den 90er Jahren durchsetzte. Es ging nicht um die Senkung von Einkaufskosten, es ging um höhere Maschinenauslastung bei deutlich reduziertem working capital.
Was ist die Kernwertschöpfung im Gesundheitswesen? Dokumentation und Abrechnung?
Im Gesundheitswesen beschäftigen wir uns intensiv mit der möglichst schnellen und umfassenden Erfassung von (Dokumentations-) Daten, aber verpassen viel zu oft, aus diesen Daten Prozessverbesserungen abzuleiten. Und dann den eigentlich wichtigen nächsten Schritt zu gehen: die Steuerung zu verbessern.
Steuerung. Wer macht was wann und wann nicht? Das erscheint programmierbar in einer Fertigungsstraße, in der sich kurzfristig nur wenige Parameter verändern. Aber in einem Krankenhaus, wo ca. die Hälfte alle Tätigkeiten durch (kurzfristig) unvorhergesehene Ereignisse beeinflusst werden und damit nur schwer planbar sind? Wenn wir in einem solchen Umfeld von Steuerung sprechen, kann es nur Echtzeitsteuerung sein.
Diese Echtzeitsteuerung findet heute fast ausschließlich ad-hoc statt. D. h. die wichtigsten Parameter sind die Entscheidungen der Handelnden vor Ort, deren Erfahrung und auch deren – begrenzter – Ereignishorizont. Und so wird in der Regel nach akuter Dringlichkeit entschieden, statt nach übergreifender Bedeutung. Und die meisten anderen Steuerungsentscheidungen werden an Warteschlangen ausgelagert. Ob es der Stau in der Notaufnahme, vor dem CT ist, oder die entlassfähigen Patienten, die noch auf Labor oder Arztbrief warten, um auch tatsächlich das Haus zu verlassen. Schnell werden diese „Eh-da“-Kosten aber sechs-, wenn nicht siebenstellig. Aber nur ausnahmsweise werden Prozesse entsprechend angepasst und gesteuert.
Wenn nun aber ein grundsätzliches Niveau an Digitalisierung erreicht wurde, warum werden die jetzt in Echtzeit vorliegenden Daten nur so selten auch zur Steuerung genutzt?
Dazu fehlen zwei notwendige weitere Schritte: Daten werden nicht in einem Leitstand zusammengebracht und wichtige Kennzahlen auf Überschreiten von roten Linien überwacht. Und auch wenn dies geschähe, dann fehlt die Steuerungs-Ressource, die nunmehr in den Prozess eingreift und koordinierend tätig wird. Wenn das Wartezimmer in der Notaufnahme überläuft und Datenanalyse gezeigt hat, dass ab einem bestimmten Niveau die Ergebnisqualität (d. h. die spätere Mortalität und Verweildauer) auf Station signifikant sinkt, dann muss man eigentlich gar nicht wissen warum das so ist, man muss nur eingreifen und das Wartezimmerproblem lösen. Es bedürfte also eines Leitstandes, der die Wartezeiten im Blick hat und im Zweifel dabei unterstützen kann, Betten freizubekommen, Verlegungen zu veranlassen, Ressourcen umzudirigieren, damit der Pegel wieder unter die kritische Schwelle sinkt.
Wenn auf Station jeden Tag hunderte Alarme von bettseitigen Geräten erzeugt werden, entsteht ein ähnlicher Teufelskreis. Mit ständigem Alarmmanagement beschäftigt und dadurch in zusätzlichem Stress, können andere wichtige, aber nicht dringende Aufgaben nicht mehr vollständig ausgeführt werden. Auch stumpft man gegen den Alarmstress ab und läuft Gefahr wirklich kritische Alarme nur verzögert wahrzunehmen. Die Zeit, Daten zu überwachen und kritische Verläufe frühzeitig zu erkennen und einzufangen – was nicht nur dem Patienten zugute kommt, sondern auch die Verweildauer und damit die Kosten reduziert – bleibt fast gar nicht mehr. Würde ein separater Leitstand die verfügbaren Daten in Echtzeit überwachen, könnten erfahrene – menschliche – Ressourcen Alarme nicht nur wie ein Algorithmus grob filtern, sondern überhaupt nur die relevanten Alarme auf Station weitergeben. Man könnte auch die Leitlinien-gerechte Durchführung der nötigen Aktion überprüfen. Und es könnten Patientendaten proaktiv überwacht werden und kritische Tendenzen frühzeitig entdeckt werden, ohne unnötige falsch-positive Nachrichten zu generieren.
Die entsprechenden Echtzeitdaten sind häufig „eigentlich“ vorhanden. Sie müssen nur zusammengeführt werden und die kritischen Entscheidungsschwellen müssen festgelegt werden. Und dann kann ein Leitstand seine Arbeit aufnehmen. Die Möglichkeit, dann in den mobilen Arbeitsbereich hinein zu kommunizieren, ist heute kein Hindernis mehr. Alles kein Hexenwerk.
Entscheidend ist die Erkenntnis, dass der Mehrwert der Digitalisierung in Prozessverbesserung liegt. Und dass diese erarbeitet werden muss – es existiert noch keine KI, die Prozesse automatisch analysiert, Veränderungen vereinbart, schult und kommuniziert. Und die Erkenntnis, dass Prozessverbesserung zumeist mit einer veränderten Verteilung von Ressourcen verbunden ist.
Wir denken also einerseits zu patientenzentrisch – zwar mit gutem Grund aber eben doch zu absolut. Und andererseits denken wir zu schwarz-weiß. Wenn digitalisiert wird kann der Computer bis auf weiteres nur Menschen bei der Arbeit unterstützen und produktiver machen. Sie ersetzen kann er bisher nicht. Weder Banken noch Flughäfen arbeiten ohne Mitarbeiter. Sie haben sogar mehr als vor dreißig Jahren. Aber der Output hat sich noch um ein Vielfaches mehr gesteigert. Durch die hybride Nutzung von IT und menschlichen Ressourcen zur besseren Steuerung.
Wir sollten auch im Gesundheitswesen mehr Augenmerk auf die Nutzung von IT zur Verbesserung der Ablaufteuerung legen. Das wird es uns ermöglichen nach dreißig Jahren auch die Ernte einzufahren.
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